Sieben von acht Grenzen des Erdsystems sind überschritten

Wie muss die Menschheit ihre Zukunft gestalten, damit möglichst alle gut leben können? Forschende haben dazu die Grenzen des Erdsystems definiert, gemessen an Artenvielfalt, Nährstoffen, Wasser, Klima – und: Gerechtigkeit.

Nicht nur die Erderwärmung bedroht das Leben auf der Erde, sondern auch andere vom Menschen beeinflusste Entwicklungen: knapper werdende Süßwasserreserven, Umweltverschmutzung und die Verringerung der Artenvielfalt. Die Earth Commission, ein internationaler Zusammenschluss von Forscherden,, hat nun sichere und gerechte Grenzen des Erdsystems benannt und in Zahlen gefasst. In der Fachzeitschrift ,,Nature ,, schreibt die Gruppe um Johan Rockström vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, dass sieben von acht sicheren und gerechten Grenzen bereits überschritten seien.

Aus Sicht der mehr als 40 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gefährdet der Mensch mit seiner heutigen Lebensweise die Stabilität und Belastbarkeit des gesamten Planeten. »Aus diesem Grund legen wir zum ersten Mal quantifizierbare Zahlen und eine fundierte wissenschaftliche Grundlage vor, um den Zustand unseres Planeten nicht nur im Hinblick auf die Stabilität und Widerstandsfähigkeit des Erdsystems, sondern auch im Hinblick auf das menschliche Wohlergehen und Gerechtigkeit zu bewerten«, erklärt Rockström. Die Grundlage bilden wissenschaftliche Erkenntnisse der vergangenen Jahre sowie Computermodellierungen.

Ein System im Ungleichgewicht ist anfällig für Störungen. Das gilt auch für die Erde. Ist deren Widerstandsfähigkeit reduziert und sind Teile des Erdsystems nachhaltig gestört – etwa durch den Klimawandel, den Verlust von Wasser, Nährstoffen oder der Artenvielfalt –, drohen erhebliche Schäden. Diese können ein schwer wiegendes, existenzielles Ausmaß annehmen und irreversible negative Auswirkungen auf Länder, Gemeinschaften und Einzelpersonen haben. Als Beispiele nennen die Forschenden den Verlust von Menschenleben, von Lebensgrundlagen oder Einkommen, die Vertreibung von Menschen; es könnten weniger Lebensmittel und Wasser zur Verfügung stehen sowie chronische Krankheiten oder Mangelernährung vermehrt auftreten.

Die Grenze der Gerechtigkeit

Aufbauend auf dem Konzept der planetaren Grenzen haben die Forschenden nun den Aspekt der Gerechtigkeit in ihr Schema einbezogen – also, wie die Menschheit die ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen für alle gerecht nutzen kann und nicht ungleich von Veränderungen oder Mangel betroffen ist. Im Detail führten die Fachleute drei Aspekte der Gerechtigkeit ein: So soll Gerechtigkeit gegenüber anderen Lebewesen und Ökosystemen gewährleistet sein, gegenüber den nächsten Generationen und gegenüber den Menschen der heutigen Generation. »Unsere sicheren und gerechten Grenzen können bei der Zielsetzung Orientierung geben, müssen aber auch durch gerechte Umgestaltungsprozesse verwirklicht werden, die den Menschen ein Mindestmaß an Zugang zu Ressourcen sichern«, sagt Koautorin Joyeeta Gupta von der Universität Amsterdam.

Zum Tragen kommt das Gerechtigkeitskonzept etwa beim Klimawandel: Während eine Erwärmung um 1,5 Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter von den Wissenschaftlern noch als »sicher« eingestuft wird, sehen sie eine Erwärmung um maximal ein Grad als »gerecht« an. Schon beim heutigen Stand seien mehrere zehn Millionen Menschen massiv vom Klimawandel betroffen, schreiben die Studienautoren. Diese Zahl werde sich mit jedem Zehntelgrad größerer Erwärmung drastisch erhöhen.

»Mit dem bisherigen Fokus auf globale Mittelwerte, zum Beispiel die globale Mitteltemperatur, werden alle Regionen gleich behandelt, was aber nicht realistisch ist«, erklärt Christian Franzke von der Pusan National University in Südkorea gegenüber dem Science Media Center. Franzke war nicht an der aktuellen Untersuchung beteiligt. »Diese Studie legt nun den Fokus darauf, dass alle Regionen bewohnbar bleiben sollen, was nur gerecht ist, da die am meisten durch den globalen Klimawandel betroffenen Gebiete am wenigsten zur Klimaerwärmung beigetragen haben.

Um das Wohlergehen der Menschheit zu gewährleisten, ist den Forschern zufolge eine gerechte globale Umgestaltung aller Erdsysteme erforderlich. »Solche Transformationen müssen systemisch in den Bereichen Energie, Ernährung, Stadt und anderen Bereichen erfolgen, sich mit den wirtschaftlichen, technologischen, politischen und anderen Treibern des Wandels des Erdsystems befassen und den Zugang für die Armen durch Reduzierung und Umverteilung des Ressourcenverbrauchs sicherstellen«, so die Studienautoren.

Dem schließt sich Helmut Haberl von der Universität für Bodenkultur in Wien an. Allerdings merkt er kritisch an, dass die von den Studienautoren genannten Grenzwerte nicht unbedingt auf einem festen Fundament stehen: »Die Grenzwerte werden zwar mit aktueller Literatur belegt, aber auch diese leidet daran, dass die enorm komplexen und vielfach örtlich spezifischen Wechselwirkungen in Ökosystemen nur unzureichend verstanden werden, so dass letztlich nur mit recht pauschalen und generalisierenden Annahmen gearbeitet werden kann.« Was die globale Erwärmung und die Folgen für die Menschheit betrifft, hält er jedoch zweifelsfrei fest: »Die Dringlichkeit der Situation ist mittlerweile klar und wird inzwischen nur mehr im Zuge von bewussten Desinformationskampagnen in Zweifel gezogen. aus Spectrum.de